Zeichnung einer Frau, die sich in einer Höhle die durch eine Art Hand geformt ist zusammenkauert oder festgehalten wird
Wissenswertes

Wenn Medikamente so anhänglich sind wie ein ungeliebtes Tattoo

Viele Menschen mit chronischer Erkrankung nehmen regelmäßig Medikamente ein. Manchmal ist das unsere einzige oder beste Möglichkeit, den Krankheitsverlauf abzumildern oder die Lebensqualität zu verbessern. Andererseits wirken nicht alle Medikamente so, wie wir es uns wünschen – und in einigen Fällen ist es sehr schwer, sie wieder abzusetzen.

Was haben manche Medikamente mit einer Tätowierung gemeinsam?

Du wirst sie vielleicht nicht so schnell wieder los.

Da diese Problematik nur wenig bekannt ist, erläutere ich in diesem Artikel als selbst davon Betroffene, wie und warum manche Menschen auf große Schwierigkeiten treffen, wenn sie die Einnahme bestimmter Medikamente beenden.

Inhalt

Die Anpassungsfähigkeit des Körpers ist das Problem
Körperliche Abhängigkeit ist nicht gleich Sucht
Welche Medikamente sind betroffen?
Vielfältige Symptome
Die unbekannte Diagnose
Checkliste: Woran erkennst du Absetzsymptome?
Die Situation von Schwerbetroffenen
Gute Heilungsaussichten
Zusammenfassung

Die Anpassungsfähigkeit des Körpers ist das Problem

Um zu verstehen, was da passiert, ist es wichtig eine grundlegende Eigenschaft des menschlichen Körpers zu kennen:

Sich flexibel anzupassen.

Unser Körper ist kein starres Gerüst, unabhängig von äußeren Einflüssen.

Bei einer weiten Flugreise und dem darauf folgenden Jetlag erleben wir, wie sehr der Körper an seinen Gewohnheiten hängt und Zeit für jede Veränderung braucht.

Ähnlich wie auf äußere Einflüsse stellt sich der Körper auch auf manche Substanzen ein, die wir regelmäßig einnehmen. Insbesondere gilt das für Medikamente, die im Gehirn auf die Nervenzellen wirken.

Wird das Medikament plötzlich weggelassen, kommt es zu einer Überreaktion.

Etwa so, als ob wir eine Staumauer erhöhen, dabei nicht bemerken, dass nach und nach immer mehr Wasser im See ist. Reißen wir plötzlich die Mauer auf die ursprüngliche Höhe ein, kommt es zu einer heftigen Überschwemmung.

Der Körper gerät in einen massiven Zustand der sogenannten „Dysregulation“ – also einer Störung des Gleichgewichts.

Im Gegensatz zu einer Tätowierung ist es nicht das Problem, die Medikamente aus dem Körper herauszubekommen. Der Körper hat sich verändert und kommt mit dem plötzlichen Fehlen des Mittels nicht zurecht – eine körperliche Abhängigkeit ist entstanden.

Die Symptome, die dabei auftreten, werden Absetzsyndrom oder Entzugssyndrom genannt.

Viele Menschen haben gar keine Probleme damit, die Medikamenteneinnahme wieder zu beenden. Andere leiden dafür massiv. Leider weiß niemand, woran das genau liegt. Vielleicht sind manche Menschen einfach sensibler, wenn es um bestimmte biochemische Einflüsse im Nervensystem geht.

Möglicherweise sind auch gerade jene Menschen stärker vom Absetzsyndrom betroffen, deren Körper sich besonders flexibel an Veränderungen anpasst: Was eigentlich ein evolutionärer Vorteil ist, wird in diesem Fall zum Problem.

Körperliche Abhängigkeit ist nicht gleich Sucht

Das Bild von alkohol- oder heroinabhängigen Menschen darfst du gleich wieder aus dem Kopf verbannen: Dies ist eine etwas andere Baustelle (auch wenn es Parallelen gibt, wie die Gewöhnung des Körpers an den Stoff und wie furchtbar ein „kaltes Absetzen“ oder „cold turkey“ sein kann).

Es ist schwer, den Begriff „Abhängigkeit“ zu verwenden, ohne ihn mit der Vorstellung von Drogensucht zu verknüpfen.

Sucht ist auch eine schwere Erkrankung, bedeutet aber vor allem missbräuchliche Einnahme und Kontrollverlust: Es entsteht eine psychische Abhängigkeit, die sich in überwältigendem Verlangen äußert, die Substanz immer wieder einzunehmen.

Menschen, die ärztlich verordnete Medikamente nach Anweisung einnehmen, sind dagegen in den allermeisten Fällen nicht süchtig – sondern geraten in eine rein körperliche Abhängigkeit.

Wir sehen uns dann erstmal gezwungen, das Medikament weiter einzunehmen, auch wenn wir es für unsere eigentliche Erkrankung nicht mehr brauchen. Wir es nicht mehr nehmen möchten – und keinerlei Verlangen nach der Wirkung verspüren (oft ist die Wirkung auch unangenehm oder die Nebenwirkungen machen uns sehr zu schaffen).

Das bedeutet nicht, sich zu betäuben oder mit der Einnahme „high“ werden zu wollen.

Es bedeutet, ein wenig oder sogar richtig ernsthaft krank zu werden, wenn das Medikament zu schnell weg gelassen wird und der Körper mit der Umstellung nicht zurecht kommt.

Wenn sehr starke Symptome auftreten, erleben manche Schwerbetroffene, dass es im Gegensatz zu den meisten Drogenentzügen Monate oder gar Jahre dauern kann, um wieder gesund zu werden.

Welche Medikamente sind betroffen?

Generell treten gravierendere Probleme beim Absetzen bei Medikamenten auf, die auf das Nervensystem und das Gehirn wirken. Das sind vor allem:

  • Medikamente, die beruhigend wirken sollen (Benzodiazepine, Neuroleptika, Antidepressiva, alte Antihistaminika)
  • Medikamente, die den Antrieb und die Stimmung bessern sollen (Antidepressiva, sogenannte Stimmungs-Stabilisatoren)
  • Bestimmte Schmerzmittel (vor allem Opioide, aber auch Antidepressiva und manche Antikonvulsiva werden für die Schmerztherapie eingesetzt)
  • Medikamente zur Linderung von Krämpfen (Antikonvulsiva, Benzodiazepine)

Manchen Menschen ist nicht einmal bewusst, dass ihre täglich eingenommen Medikamente gegen Schlafstörungen oder Schmerzen zu den genannten Gruppen gehören.

Häufig reicht schon ein einziger Hausärzt*innen-Besuch mit unbestimmten oder diffusen Beschwerden, um ein Rezept über solch ein Mittel ausgehändigt zu bekommen.

Vielfältige Symptome

Die Ausprägung eines Absetzsyndrom erstreckt sich von leichten, kurz anhaltenden Symptomen bis hin zur langwierigen, schweren Erkrankung, mit allen Abstufungen dazwischen.

Mögliche Symptome reichen von Kopfschmerzen zu Magen-Darm-Problemen, von Sehstörungen über Muskelprobleme – bis hin zu Ängsten und depressiven Zuständen. Und vielem mehr.

Es ist so ziemlich alles dabei, was du dir an Beschwerden vorstellen kannst.

Oft verschlechtern sich bestehende Erkrankungen, zumindest zeitweise, durch den extremen Stresszustand in den der Körper gerät.

Die unbekannte Diagnose

Offiziell gibt es zwar zumindest eine Diagnose: Das SSRI-Absetzsyndrom.

(SSRI sind eine Untergruppe der Antidepressiva.)

Die meisten sehen mich aber nur ratlos an, wenn ich das erwähne.

Auch Fach-Ärzt*innen fällt es teilweise schwer, Absetzsymptome als solche zu identifizieren und ernstzunehmen.

Ein Mann leuchtet in einen dunklen Tunnel mit einer kleinen Lampe.
Ärzt*innen und Betroffene tappen oft im Dunkeln, wenn das Absetzen von Medikamenten größere Probleme macht.

International bestehen schon seit einigen Jahren Betroffenengruppen mit unzähligen aktiven Mitgliedern. Und es gibt inzwischen sogar eine ganze Anzahl wissenschaftlicher Untersuchungen dazu.

Bis aber neue Erkenntnisse von der Erfahrung in die Forschung, von da aus in die Universitäten und damit die Ausbildung junger Ärzt*innen gelangt, dauert es lange.

Dazu kommt: Die Hersteller dieser Medikamente sind recht wenig interessiert daran, diese Problematik bekannter zu machen – sie sind aber diejenigen, die den Großteil der Studien zu Medikamenten durchführen.

(Mehr zur kritischen Betrachtung von Forschungsarbeiten findest du in meinem Beitrag Achtung, wissenschaftliche Studie!)

Checkliste: Woran erkennst du Absetzsymptome?

Die Symptome werden oft mit einem Infekt, einer psychosomatischen Stressreaktion oder der ursprünglichen Erkrankung verwechselt. Hellhörig sollten du und dein*e Ärzt*in werden, wenn mindestens einer der folgenden Punkte zutreffen:

  • Die Probleme treten innerhalb weniger Tage oder Wochen nach dem Absetzen oder nach einer Dosisverminderung auf
  • Es handelt sich um bisher unbekannte Symptome
  • Du erlebst eine Mischung aus diffusen körperlichen Beschwerden und psychischen Symptomen
  • Die Symptome sind, auch wenn sie deinem ursprünglichen Problem ähneln, ungewohnt heftig
  • Dein Befinden schwankt sehr, teilweise innerhalb von Stunden oder Tagen

In manchen Fällen können Absetzsymptome sogar erstmals mehrere Monate nach dem Absetzen auftreten. Wenn du den Verdacht auf Absetzsymptome hast, ist es meist ratsam zunächst nicht weiter zu versuchen abzusetzen. Hole dir ärztliche Hilfe und informiere dich auch selbst.

Die Situation von Schwerbetroffenen

Während viele Menschen gar nicht, leicht oder kurzfristig vom Absetzsyndrom betroffen sind, gibt es leider auch sehr schwer Betroffene.

Das sind oft Menschen, die ihr Medikament nach langer Einnahme abrupt weg lassen mussten und deren Körper sich über mehrere Jahre hinweg abmüht, damit zurecht zu kommen.

Oder Menschen, die schon sehr viele Medikamente an- und abgesetzt haben, und deren System das irgendwann nicht mehr verkraftet.

Es gibt auch Betroffene, die trotz recht kurzer Einnahme von nur ein oder zwei Medikamenten mit schweren Symptomen auch auf kleine Dosisverminderungen reagieren.

Eine Frau hockt alleine auf einem Waldweg. Es ist sehr neblig.
Ohne Orientierung alleine in einem nebligen Wald – so kann es sich anfühlen, wenn schwere und langanhaltende Symptome nicht ernst genommen werden

Manche von uns quälen sich jahrelang, um ein Medikament wieder loszuwerden:

Das ist ungefähr so mühselig, wie eine mehrjährige Pilgerfahrt auf den Knien kriechend zu absolvieren.

Oder schlimmer.

Wie bei vielen anderen langwierigen Erkrankungen leiden die meisten von uns unsichtbar.

Manche sind zeitweise bettlägerig oder können die Wohnung kaum verlassen – manche fühlen sich sogar wie in einem Monate oder Jahre andauernden Alptraum gefangen.

Dass die Existenz dieser manchmal sehr schwerwiegenden Problematik nicht allgemein unter Mediziner*innen bekannt ist, macht es besonders schwer, damit zu leben. Auch Angehörige haben Schwierigkeiten sich mit der Situation zu arrangieren: Sie wissen oft nicht wem sie glauben sollen.

Bei Alltagseinschränkungen sind viele auf finanzielle und praktische Hilfen angewiesen, für die zwingend eine Diagnose benötigt wird.

Bestehen nur leicht oder mäßige Symptome ist das recht unproblematisch. Dennoch kann es eine seelische Belastung sein, nicht ernstgenommen zu werden.

Gute Heilungsaussichten

Wenn du diesen Artikel als selbst Betroffene*r oder Angehörige*r liest, möchte ich dir Mut machen. Laut vieler Erfahrungsberichte kann sich der Körper glücklicherweise auch bei schweren Entzugssyndromen erholen.

Eine „offizielle“ Therapie oder ursächliche Behandlungsmethode gibt es zwar nicht – hilfreich ist aber alles, was gut tut und den Körper in seinen Selbstheilungskräften unterstützt.

Denn unsere Anpassungsfähigkeit, die das Problem verursacht hat, ist gleichzeitig auch der Schlüssel zur Heilung.

Eine große Herausforderung bleibt es natürlich, erstmal genügend Unterstützung im Alltag zu organisieren. Und in uns selbst ausreichend Ressourcen zu mobilisieren, um diese schwere Zeit durchzustehen.

Und uns dann das Leben Schritt für Schritt zurück zu erobern.

Zusammenfassung

Medikamente abzusetzen, die auf das Nervensystem oder Gehirn wirken, kann manchmal ein schwieriges Unterfangen sein. Unser Körper braucht dann viel Zeit und Kraft, um damit zurecht zu kommen. Noch schwieriger wird die Situation durch mangelndes Wissen und Verständnis der Problematik.

Auch wenn es dauert, es besteht Anlass zur Hoffnung: Berichte von Betroffenen zeigen, dass selbst bei hartnäckigen und langanhaltenden Symptomen Heilung möglich ist.

Das Absetzen von Medikamenten kann manchmal – wie das Entfernen einer Tätowierung – Narben hinterlassen, die nur sehr langsam verheilen.

Achtung: Die im Beitrag erwähnten Medikamente sollten nach längerer Einnahme – außer bei bedrohlichen Nebenwirkungen – nicht sehr schnell oder abrupt abgesetzt werden. Auch wenn nicht jeder ein Absetzsyndrom entwickelt, ist es meist sinnvoll, dem Körper die Chance zu geben, sich nach und nach auf das Beenden der Einnahme einzustellen.

Weitere Informationen, Austausch und Unterstützung unter Betroffenen gibt es im ADFD-Forum oder auch englischsprachig bei Surviving Antidepressants.

Bitte beachten: Die Informationen auf dieser Seite dienen der allgemeinen Information, können aber keine Behandlung durch Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen oder andere Fachmenschen ersetzen. Ich bin weder Medizinerin noch Psychologin.  Alle Entscheidungen zur Einnahme und zum Absetzen verschreibungspflichtiger Medikamente sollten mit einer Ärztin oder einem Arzt deines Vertrauens abgesprochen sein. Lies bitte den medizinischen Haftungsausschluss.

Wissenschaftliche Studien zum Thema

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