Fühl‘ dich nicht schlecht, weil du dich schlecht fühlst
Mich zu verurteilen, weil ich traurig bin oder mir Sorgen mache, anstatt optimistisch zu sein und das Gute zu sehen, ist etwas, das mich immer wieder begleitet.
Manchmal ist es einfach der Gedanke „ich sollte mich nicht schlecht fühlen“, ein anderes Mal „wenn du negative Gefühle hast verhindert das deine Heilung“. Manchmal habe ich einfach Angst, mich nicht mehr beruhigen zu können und meine ganze Kraft zu verlieren, wenn ich meine Traurigkeit und meine Sorgen wirklich ganz zulasse.
Aber: All diese zusätzlichen stressigen Gedanken und Gefühle kosten sehr viel Energie und können mein Leid noch verstärken.
Nicht immer, aber manchmal gelingt es mir dann, die schwierigen Gefühle ganz da sein zu lassen, ohne zu versuchen sie zu verscheuchen oder zu unterdrücken.
Und nicht immer, aber manchmal kann ich dann sogar Schönheit und Lebendigkeit in der tiefsten Traurigkeit finden.
Ich habe dazu einen schönen Beitrag von Toni Bernhard gefunden, den ich für euch übersetzt habe.
Der folgende Beitrag wurde ursprünglich von Toni Bernhard auf ihrem Blog bei Psychology Today veröffentlicht. Ich habe ihn mit freundlicher Genehmigung der Autorin aus dem Englischen übersetzt. Link zum Originaltext: Don’t feel bad about feeling bad
Lies dazu gern auch meinen Artikel Innere Kraftquelle: Mitgefühl üben – dort beschreibe ich meine eigenen Erfahrungen mit Selbstmitgefühl.
Fühl‘ dich nicht mies, weil du dich mies fühlst
Dir Vorwürfe zu machen, weil es dir nicht gut, geht macht es nur schlimmer.
Ich werde mit einem Begriff beginnen, der immer bekannter wird: Achtsamkeit. Achtsamkeit bezieht sich darauf, deine Aufmerksamkeit auf die gegenwärtige Erfahrung zu lenken, egal ob dies etwas in deiner Umgebung ist, ein Gedanke oder ein Gefühl.
Für mich liegt ihr größter Wert darin, dass sie mir hilft, mir bewusst zu machen, was gerade in meinen Gedanken los ist.
Dieses Bewusstsein kann mir helfen zu erkennen, warum ich mich schlecht fühle – und schon allein das zu wissen kann dazu beitragen, dass es beginnt mir besser zu gehen.
Dennoch ist Achtsamkeit kein Allheilmittel gegen negative Gefühle.
Trotz des aktuellen Internethypes, dass, wenn du dir nur achtsam genug deine schwierigen Gefühle bewusst machst, sie sich einfach auflösen – puff – ist das häufig nicht der Fall.
Meine Erfahrung ist: Wenn mir bewusst wird, dass ich mich schlecht fühle – vielleicht bin ich traurig oder ich mache mir wegen irgendetwas übermäßige Sorgen (diese zwei Beispiele werde ich in diesem Beitrag verwenden) – hilft achtsames Bewusstsein zwar, aber es lässt die schmerzhaften Gefühle nicht unbedingt verschwinden.
In der Tat macht es Sinn, dass schmerzhafte Gefühle oft bestehen bleiben, denn sie haben sozusagen „ihren eigenen Kopf“.
Sie erscheinen einfach so, ausgelöst durch verschiedene Zustände und Ursachen in unserem aktuellen Leben.
Wir können nicht kontrollieren, wann sie kommen.
Wenn sie auftauchen, tendieren wir dazu, das ganze zu verschlimmern, indem wir zusätzlich zur schwierigen Situation auch noch negativ über uns urteilen. Das ist unser innerer Kritiker der unseren inneren Frieden stört.
Viele Jahre lang war mein eigener innerer Kritiker dafür zuständig, wie ich auf Emotionen reagierte, indem er mir Befehle zubrüllte:“Fühl dich glücklich, nicht traurig“; „Hör auf dir Sorgen zu machen“.
Aber ich kann nicht kontrollieren, welche Gedanken und Gefühle sich zeitweise in meinem Kopf niederlassen.
Wenn du jemals versucht hast, dies zu kontrollieren, vermute ich, dass du damit genauso wenig erfolgreich warst wie ich.
Der Grund dafür ist: Das, was in unserem Kopf auftaucht, basiert auf unseren vergangenen Erfahrungen und auf den Geschichten, die wir uns selbst über unser Leben erzählen.
Wir leben in Geschichten, und unsere Geschichten tendieren dazu, sehr viele „du solltest“ und „du solltest nicht“ zu beinhalten – diese dich anbrüllenden Befehle die ich erwähnt habe: „Ich sollte mich so fühlen“; „Ich sollte mich nicht so fühlen“.
Meiner Erfahrung nach erscheint ein schmerzhaftes Gefühl einfach dann, wenn es erscheint. Mir selbst zu sagen, dass ich mich nicht so fühlen sollte, funktioniert nicht.
Wenn Traurigkeit da ist, ist sie da. Wenn Sorge da ist, ist sie da.
Ja, mir ein schmerzhaftes Gefühl bewusst zu machen kann hilfreich sein – es kann dazu führen, dass es dich nicht mehr so fest im Griff hat.
Aber es lässt dadurch nicht einfach nach.
Meiner Ansicht nach ist es in Ordnung, wenn Sorgen oder andere anstrengende oder schmerzhafte Emotionen da bleiben. Wenn sie das tun, erwecke Mitgefühl für dich selbst und das seelische Leid, das damit einhergeht, anstatt zu versuchen sie zum Verschwinden zu bringen.
Und so – ohne negative Selbstbewertung hinzuzufügen – sei traurig, wenn du dich danach fühlst, aber füge Selbstmitgefühl dem Leid der Traurigkeit hinzu.
Sei besorgt über etwas, wenn das gerade passiert, aber füge Selbstmitgefühl dem Leid des Besorgtseins hinzu. (Das kannst du sogar mit Wut machen: Akzeptiere ohne Bewertung, dass du dich wütend fühlst, aber schenke dir Selbstmitgefühl für das Leid, das Wut bedeutet.)
In anderen Worten – wie der Titel dieses Beitrages sagt – tröste dich, wenn du dich schlecht fühlst, anstatt dich zu verurteilen.
Dir die Schuld zu geben fügt bloß eine zweite Schicht Leidens zu dem Leid hinzu, das du bereits erlebst, weil du dich schlecht fühlst.
In der letzten Weihnachtszeit war ich traurig.
Zunächst wusste ich nicht warum. Mithilfe des Werkzeugs der Achtsamkeit wurde mir bald klar wieso.
Wir sind letzten März umgezogen, und obwohl ich unser neues Zuhause liebe, hatte ich mein halbes Leben in dem kleinen Haus auf der anderen Seite der Stadt verbracht aus dem wir ausgezogen waren.
Ich vermisste alles, sogar die Weihnachtsdekoration die unsere Nachbarn Jahr für Jahr aufbauten. Ich wusste genau wie jedes Haus aussehen würde.
Auch wenn mir bewusst wurde, was der Grund für meine Traurigkeit war, verschwand sie nicht.
Gab es irgendetwas das ich tun konnte um mir zu helfen? Ja, ich konnte Mitgefühl für mein Leid empfinden, und, wenn ich das tat, half es – sehr viel.
Wie habe ich das gemacht?
Selbstmitgefühl bedeutet einfach, freundlich zu dir selbst zu sein – so liebevoll wie du mit einem geliebten Menschen umgehen würdest.
Also sprach ich im Stillen mit mir über mein Leid, indem ich Worte verwendete wie: „Ich bin so traurig darüber, dass ich jetzt nicht in meinem früheren Zuhause bin. Diese Traurigkeit ist schmerzhaft, aber ich weiß, es ist nicht meine Schuld, dass ich so fühle. Es wird vorübergehen. Lass mich etwas Wohltuendes finden, das ich tun kann, solange dieses Gefühl da ist.“
Ich habe bemerkt, dass ich, wenn ich meinen Gefühlen auf diese Weise eine Stimme gebe, mich selbst wissen lasse, dass ich mein Leid ernst nehme. Das allein vermindert den emotionalen Schmerz der mit Sorge verbunden ist… oder jedem anderen belastenden Gefühl.
Ein weiteres Beispiel: Ich bin bin jemand, der sich immerzu Sorgen macht. Ich kann mir um fast alles Sorgen machen – über Zustand der Welt oder ob ich die Führerscheinprüfung bestehen werde (dies kommt auf mich zu da ich meinen Führerschein erneuern muss).
Das klingt vielleicht wie eine seltsame Kombination von Sorgen – aber da hast du’s, ich bin eben jemand der sich um alles Sorgen macht.
Ich weiß nicht, wie ich so geworden bin und ich finde es nicht sinnvoll zu versuchen herauszufinden, was, in meiner frühen Vergangenheit, diese Tenzenz ausgelöst hat (wenn diese Art von Selbsterforschung für dich hilfreich ist, dann ist das in Ordnung!).
Was ich hilfreich finde, ist mir zunächst klar zu machen, dass ich mir Sorgen mache (das ist angewandte Achtsamkeit).
Zu erkennen, dass ich mir Sorgen mache schwächt oft schon die Intensität ab. Manchmal verschwindet es sogar schon… aber, ah, es wird zurück kommen, denn ich bin jemand der sich Sorgen macht, ich kann anscheinend meinem Verstand nicht befehlen sich keine Sorgen zu machen!
Also, wenn ich merke dass ich mich sorge, erwecke ich Mitgefühl für das Leid, das damit einhergeht, anstatt mir den Befehl zu geben, damit aufzuhören.
Dieses Selbstmitgefühl bewirkt, dass ich mit den Sorgen besser umgehen kann. Es erlaubt mir, geduldig zu warten, bis die Sorgen wieder aus meinem Kopf verschwinden, so wie es schließlich alle Gefühle und Gedanken tun.
Du kannst deinem Verstand nicht befehlen auf eine bestimmte Weise zu denken oder zu fühlen.
Wenn du das könntest, würdest ihm befehlen niemals über Sachen nachzudenken die dich belasten und niemals schmerzhafte Gefühle zu erleben.
Also schau, ob es dir hilft, diese schmerzhaften Gefühle einfach in Ruhe zu lassen und, solange sie da sind, mit dir selbst mit mitfühlender Stimme zu sprechen.
Zelda Fitzgerald sagte: „Niemand, noch nicht einmal ein Dichter, hat jemals gemessen, wie viel das Herz halten kann“.
Nach allen Maßstäben war sie ein zutiefst bekümmerter Mensch. Dennoch zeigen mir diese Worte, dass sie das menschliche Herz verstand.
Ihre Worte zu wiederholen kann als Erinnerung daran dienen, dass unsere Herzen alles in unserem Leben halten können – so sanft, wie Eltern ihr Neugeborenes halten – einschließlich aller Herausforderungen und Schwierigkeiten.
© 2020 Toni Bernhard.
Toni Bernhard ist die Autorin von drei preisgekrönten Büchern: How to Be Sick: A Buddhist-Inspired Guide for the Chronically Ill and Their Caregivers (jetzt in einer überarbeiteten und aktualisierten Version erhältlich), How to Wake Up: A Buddhist-Inspired Guide to Navigating Joy and Sorrow, und How to Live Well with Chronic Pain and Illness: A Mindful Guide. Bevor sie krank wurde, war sie Jura-Professorin und Studiendekanin an der University of California in Davis. Ihr beliebter Blog “Turning Straw Into Gold” wird von Psychology Today online veröffentlicht. Besuche ihre Website unter www.tonibernhard.com.