Schmerz anerkennen – trotzdem Freude finden
Eines der wertvollsten Bücher, um mit chronischer Erkrankung und Schmerzen zu leben, ist für mich „Turning Suffering Inside Out„ von Dalene Cohen.
Die Autorin war schwer an Rheumatoider Arthritis erkrankt und entwickelte für sich und ihre PatientInnen – sie behandelte später selbst Menschen mit chronischen Schmerzen – Übungen und Fähigkeiten, um trotz des intensiven Schmerzes und körperlicher Einschränkungen bewusst und mit Freude zu leben.
Vor einigen Jahren ist sie an einer Krebserkrankung verstorben. Ihre Bücher und ihre Behandlungsmethode helfen aber weiterhin unzähligen Menschen.
Soweit ich weiß, gibt es ihre Veröffentlichungen leider nur auf Englisch. Mit freundlicher Erlaubnis ihre Ehemannes möchte ich daher nach und nach einige ihrer Texte übersetzen und mit euch teilen.
Der folgende Text ist ein Auszug aus einem Vortrag mit dem Originaltitel „The Skills Necessary to Deal with Anguish„:
Fähigkeiten, die du brauchst, um mit Schmerzen und großem Leid zu leben
Ich habe seit 22 Jahren Rheumatoide Arthritis, eine sehr schmerzhafte und lähmende Erkrankung.
Im ersten Jahr meiner Erkrankung war ich bettlägerig.
Aufgrund meiner Schmerzen und extremer Schwäche war eine Änderung meiner Körperhaltung ein dramatisches Ereignis. Ich musste jede kleinste Empfindung in meinen Füßen und Beinen wahrnehmen um vom Sitzen zum Stehen zu kommen.
Aus meinem Bett aufzustehen und ins Badezimmer zu gelangen brauchte genauso viel Aufmerksamkeit und Konzentration wie auf Safari zu gehen. Die Mitglieder der Zen-Gemeinschaft, in der ich damals lebte, hängten eine Freiwilligenliste auf um mein Zimmer zu putzen, meine Wäsche zu erledigen und meine Haare zu waschen.
Zunächst war mein bewusstes Leben nur Schmerz. Mitgerissen durch die Macht des Schmerzes, davon überwältigt und verzehrt, konnte ich nichts anderes mehr fühlen.
Ich hatte einen Großteil meines Lebens damit verbracht, von außen auf meinen Körper zu schauen, ihn meist kritisierend: Zu viel Fett hier – nicht genügend Muskulatur dort.
Jetzt war ich dazu gezwungen, mich jeden Moment völlig der Körperlichkeit meiner Existenz zu unterwerfen.
Ich hätte mir niemals ausgesucht, das Leben auf solch einem einfachen Level zu leben, aber als ich das musste, entdeckte ich, dass neben dem Schmerz andere Erfahrungen darauf warteten von mir bemerkt zu werden: Hier ist eine Bewegung, dort ist Atmung, hier ist Sonnenwärme, hier ist unerträgliches Brennen, hier ist Enge – überall wo ich hinschaute gab es eine andere Empfindung.
Ich begann meinen Körper das erste mal in meinem Leben richtig zu bewohnen.
Jeden Tag, wenn ich meine Augen öffnete, hoffte ich, dass mein Martyrium auf magische Weise vorbei sein würde, dass ich aus einem schlechten Traum erwachen würde.
Aber nachdem ich eine Weile bettlägerig war, realisierte ich, dass dies das einzige Leben war das ich hatte.
Und dass dies der Körper ist mit dem ich leben muss.
Dies ist meine Realität.
Also begann ich damit, beim Erwachen bereit für alles zu sein, was ich gerade war.
Ich sagte zu mir selbst: „Welcher Teil meines Körper funktioniert heute? Was kann ich mit diesem Körperteil machen?“
Auf solch einem primitivem Level den Tag zu planen war für mich extrem spannend.
Weil ich so krank war, wurde von mir nichts verlangt: Keine Leistung, keine Selbstständigkeit, kein Multi-Tasking. Nur ich, lebend und atmend.
Ich begann die Welt aus dem Blickwinkel meines Körpers anzuschauen.
Und dieses, vom Innersten meines Körpers nach außen Schauen, dabei ihn völlig bewohnend, seine Bedürfnisse nach Ernährung und Wohlbefinden zu leben anstatt die Wünsche meines Egos zu befriedigen – diese Veränderung war das Wichtigste in Bezug auf meine darauffolgende Zufriedenheit.
Den Schmerz anerkennen und dein Leben bereichern
Ich habe oft Menschen, die mit außergewöhnlich viel Verzweiflung oder körperlichen Schmerzen leben müssen,sagen hören: „Ich weiß, es wäre besser wenn ich meine Situation akzeptieren könnte und ich versuche es die ganze Zeit, aber ich kann das nicht! Ich kann es nicht akzeptieren, ich hasse es!“
Ich denke viele von uns haben eine verzerrte Vorstellung davon, was eine katastrophale Situation „zu akzeptieren“ wirklich bedeutet.
Wenn du die Vorstellung hast, dass etwas gut zu bewältigen so aussieht, wie die sprichwörtliche „Würde im Kugelhagel zu behalten“, dann glaubst du, du solltest absolutes Durchhaltevermögen heraufbeschwören und dir ein dickes kosmisches Grinsen auf dein Gesicht pflastern, egal welche Schrecken du durchlebst.
Ich denke nicht, dass das hilfreich ist.
Tatsächlich klingt für mich die Idee, Schmerzen „zu akzeptieren“ zu passiv, um den Prozess, mit lang andauernden chronischen Schmerzen oder seelischer Pein umzugehen, richtig zu beschreiben:
Weil das nicht den enormen Mut und die Energie vermittelt, die es braucht, um physische Schmerzen als Teil deines Lebens zu akzeptieren.
Schmerzen wahrhaftig zu akzeptieren hat ganz und gar nichts mit passiver Resignation zu tun.
Im Gegenteil, es ist aktives Engagement im Leben im aller intimsten Sinne.
Es ist Begegnung und Tanz, Toben und Zuwendung.
Um deine Schmerzen auf dieser Ebene zu akzeptieren musst du besondere Fähigkeiten entwickeln.
Wenn du dann etwas Übung in diesen Fähigkeiten hast, fühlt sich der Umgang mit Schmerz nicht mehr wie Resignation an – sondern wie eine Umarmung oder die Verbindung zwischen zwei Trainingspartnern.
Resignation ist zu passiv.
Was sind also die Fähigkeiten, die es braucht, um mit den Katastrophen, dem Schmerz und der Verzweiflung umzugehen, denen du Tag für Tag begegnest und die du wahrscheinlich für lange Zeit haben wirst?
Wenn du dich in dieser schwierigen Situation befindest, ist deine Aufgabe
(1) all dein Leid und was es dich kostet, anzuerkennen und
(2) dein Leben exponentiell zu bereichern.
Dies bedeutet dem chronischen Leid von zwei Seiten zu begegnen: Die eine ist, es anzuerkennen und zu verstehen, was es dich kostet in Bezug auf deinen Verlust.
Die andere ist es, sich für eine Vielzahl von Erfahrungen zu öffnen, dein Leben dabei so reich zu machen, dass kein Schmerz es völlig in Beschlag nehmen kann.
Bevor wir unsere kreative Energie an die Depression verlieren, können wir damit beginnen mit unserem Leid so zu leben, dass die Frustrationen und Enttäuschungen ein Teil des vielfältigen Mosaiks des Lebens werden.
Um solch eine Einstellung zu haben, müssen wir die Fähigkeit entwickeln, immer und jederzeit ganz bewusst zu leben – nicht nur in den Augenblicken die wir bevorzugen.
Dein Leid anzuerkennen, dir ganz genau bewusst zu machen, was es dich kostet, mit deiner schmerzhaften Situation zu leben, ist der erste Schritt auf dem Pfad zu jener Energiequelle die wir oft abdrehen bei dem Versuch unserer Verzweiflung zu entkommen.
Ich arbeite mit Menschen, die unter degenerativen Erkrankungen wie Arthritis, MS oder Schlaganfall leiden. Viele haben andauernde Schmerzen.
Sie sagen zu mir: „Warum sollte ich mein Leid anerkennen? Im gegenwärtigen Augenblick leben, mit all meiner Höllenqual? Ich lenke mich lieber ab.“
Also warum?
Zusammengefasst denke ich, dass die Strategie mit Leid umzugehen, indem du dich nur ablenkst, nicht langfristig funktioniert.
Vielleicht kannst du es kurzfristig verdrängen oder dich ablenken – Stunden oder Tage. Verdrängung ist super für kurze Zeit – es kann dir erlauben eine Frist trotz einer Krise einzuhalten oder es kann dir dabei helfen, schrittweise furchtbare Umstände zu akzeptieren – aber auf lange Sicht zahlst du einen hohen Preis.
Wenn du deine Schmerzen oder dein Leid lange Zeit verdrängst, existierst du irgendwann in einer kahlen Wüste ohne Gefühl.
Um in der Verdrängung zu bleiben, musst du dich von allen neuen Informationen über deine Situation abschirmen: Von der Rückmeldung anderer Menschen, deinem eigenen Bauchgefühl. Dadurch wird dein Bewusstsein sehr eng und dein Leben verläuft auf einem einzigen Level ohne Variation, Vielfalt und Gefühl.
Du musst auf einer sehr oberflächlichen Ebene leben um dauerhaft fernzusehen oder zu arbeiten um dich abzulenken.
Dich endlos von einer unerträglichen Realität oder unerträglichem Schmerz abzulenken ist trotzdem keine unsinnige Entscheidung: Es ist verständlich, dass wir uns nicht freiwillig schrecklichem Leid aussetzen wollen.
Manche Leute sagen zu mir, was für ein großes Geschenk meine Arthritis, meine Schmerzen seien – sie haben mich so viel Geduld und Mitgefühl gelehrt. Ich ärgere mich aber ehrlich gesagt darüber, wenn man mir sagt, meine Schmerzen wären gut für mich.
Für mich ist das überhaupt kein Geschenk.
Aber da ich nun einmal unter scheußlichen Schmerzen und Verzweiflung durch meine Rheumatoide Arthritis leide, nutzte ich das um meinen Charakter zu entwickeln.
Hätte ich aber wirklich die Wahl, wäre ich lieber gesund und oberflächlich.
Weiter oben habe ich erwähnt, dass dein Leben exponentiell zu bereichern eine der wichtigen Fähigkeiten ist.
Was ich damit meine ist folgendes:
Wenn dir in jedem einzelnen Moment zehn verschiedene Dinge bewusst sind – etwa der Klang einer Stimme, dein Gesäß auf dem Stuhl, das Geräusch vorbeifahrender Autos, der Gedanke an die Wäsche die du noch waschen musst, das Surren der Klimaanlage, das Rutschen deiner Brille auf deiner Nase, ein unangenehmer scharfer Rückenschmerz, kühle Luft, die du durch deine Nasenlöcher einatmest und warme Luft die sie wieder verlässt – bedeutet das zu viel Schmerz: Eines von zehn Dingen. Das ist unerträglicher Schmerz der dein Leben bestimmen wird.
Wenn du dir jedoch in diesem Augenblick 100 verschiedener Dinge bewusst bist, nicht nur zehn – subtilere Dinge, wie die animalische Präsenz anderer Menschen die still im Raum sitzen, den Schatten der Lampe an der Wand, die Berührung deiner Haare an deine Ohren, die Kleidung auf deiner Haut – und unter diesen vielen Dingen auch Schmerz fühlst, dann ist dein Schmerz einer von hunderten Dingen in deinem gegenwärtigen Bewusstsein, und das ist Schmerz mit dem du Leben kannst.
Er ist dann nur noch einer der vielfältigen Wahrnehmungen in deinem Leben.
Als ein Mensch mit chronischer Erkrankung, der mit anderen Menschen arbeitet, die unter langanhaltenden körperlichen Einschränkungen und der Verzweiflung/Bitterkeit leiden, die solche Schwierigkeiten begleitet, bin ich sehr daran interessiert was einen Einfluss auf ihren Heilungsprozess hat.
Über die Jahre hinweg habe ich bemerkt, dass bei den wichtigsten Heilungserfahrungen tiefe Freude und Genuss eine große Rolle spielen.
Dies trifft sowohl auf körperliche als auch auf spirituelle Heilung zu.
Wenn dein Leid chronisch ist oder sehr intensiv, darfst du deine Freude nicht dem Zufall überlassen.
Du musst die Wahrnehmung von Genuss sehr ernst nehmen und lernen, wie du diese Gefühle in dein Leben einbaust.
Wenn du dich von emotionalem Stress oder körperlichen Schmerzen überwältigt fühlst, rate ich dir unbedingt die Fähigkeit zu entwickeln, alle möglichen Quellen von Freude und Glück zu erkennen.
© 2000 Darlene Cohen
2 Comments
Beatrice
Vielen lieben Dank fürs Übersetzen – so, so wertvoll und so wahr!
…
Aus deinem Text….“Schmerzen wahrhaftig zu akzeptieren hat ganz und gar nichts mit passiver Resignation zu tun. Im Gegenteil, es ist aktives Engagement im Leben im aller intimsten Sinne.“
Es ist Begegnung und Tanz, Toben und Zuwendung.
…
zwar habe ich auch mit Schmerzen zu tun – aber primär – mit der Langsamkeit – mit dem „nichts tun können“…weil meine Organe – mein Gehirn…jetzt ruhen muss – oder überlastet war…aber auch das…ist irgendwie Begegnung, Tanz (in Slow Motion) – aber auch immer wieder Toben und Zuwendung – ich hätte die Worte nicht gefunden…aber der ganze Text drückt etwas aus was ich kenne – und wie ich leben kann – und wie schwer ich aber auch …mein Leben …einem anderen Nahe bringen kann!
Danke für dein Schreiben 🙂
Lieben Gruß
Beatrice
Elisa
Liebe Beatrice,
sehr gerne – es ist immer schön, Texte zu finden die mich berühren und sie dann auch auf meinem Blog mit anderen teilen zu dürfen.
Einen ganz lieben Gruß zurück!
Elisa